Sonntag, 8. April 2012

Ein Gedicht wirbelt auf (oder auch nicht)

Was bedacht werden muss

Lange war ich mit mir selbst nicht einer Meinung. Die Schnelligkeit mancher Reaktionen auf Grass und seinen bewussten Tabubruch "Was gesagt werden muss" fand ich bemerkenswert und verdächtig. Wollte er, was Kunst oft will, mit seinen Gedanken die Gedanken anderer aufwirbeln? Was ist daran falsch? Mir missfällt, dass er nicht beide Seiten gleichermaßen in die Pflicht nimmt.

Wer Kritik übt und dabei Dogmen zum Thema Israel/Iran bricht kann den Zustrom von reflexhaften Beifall der Rechten nicht verhindern. Dies provozierend hat Grass die Flanke offen gelassen. Augenscheinlich wollte er ein Gegengewicht vorlegen - ein Gegengewicht zu den, von vielen unkritisch betrachteten, aber aktuell sicher bewusst oder unbewusst aufbereiteten Nachrichten der Meinungsmacher. Aber er hat viel Legitimation eingebüßt, mit der Entscheidung, den arabischen Antizionismus nicht als Bedrohung des Existenzrechts Israels darzustellen. 
Wie kommt er auf das schmale Brett, dass nicht auch im Irak Nachrichten von Meinungsmachern aufbereitet werden? Hat er dabei intellektuell den Überblick verloren, warum so eskalierend? Der Sache des Friedens kann dieses Stück höchstens noch insofern nützlich sein, dass es den Blick der Welt auf Gefahren lenkt.

Die Welt ist nicht so schwarz/weiss, wie mancher Hardliner sie gern schminkt, wenn es seinen Absichten dient. Und nein, die Grundierung ist auch nicht braun, wie es verschiedentlich kolportiert wird, die Welt ist bunt. Doch im Licht einer einzigen Wellenlänge verschwindet jede Farbe. 
Es waren immer die Methoden der Eiferer, nicht ihre Ziele, die Verderben brachten. Da ist so ein einseitiges Gegengewicht auch nur geeignet, vorhandene Muster zu bedienen. 
Das Schlimmste an (religiösen & ideologischen) Eiferern auf allen Seiten ist die Abwesenheit von Zweifel. Bei Gläubigen stärkt Übereifer vielleicht noch Mildtat & Gnade, nicht aber empathische Toleranz und Respekt im Sinne einer aufgeklärten humanistischen Welt.

Grass ist ein denkbar ungeeigneter Ketzer (Waffen-SS-Makel) und auf die, die das mit diesem U-Boot eingerührt haben, auf die sei auch geschis...! Von Freunden verlange ich Kritik, auch unbequeme, unverblümt wahrhaftig - auch Verweigerung von Nibelungentreue, aber diskret - Zuspruch öffentlich! 
Zum Atomwaffensperrvertrag gibt es keine friedliche Alternative, und in ihm darf es keine 1. und 2. Klasse geben.

  • "Die Zivilisation scheint nur eine dünne Haut zu sein, die jederzeit zerreißen kann. Völkermord ist überall möglich. Dieser Satz hat in Sarajevo eine neue, schneidende Klarheit." - Bärbel Bohley
  • "Wer Frieden will, muss mit dem Frieden anfangen! Der Friede ist kein Ziel, er ist die Methode." - Mahatma Ghandi

Was im Umkehrschluss heißt, es gibt keinen Frieden nach dem nächsten Krieg, auf dessen
Nutzen man nicht verzichten will.

Was verstanden werden muss

Marcel Reich-Ranicki z.B., wer will beurteilen wie er fühlt?
Ich nicht, da bin ich völlig überfordert angesichts seiner Biografie. Ich wünsche Juden, Israel, dass sie die Kraft finden, sich vom Schatten des historischen Zivilisationsbruchs, des industriell organisierten Völkermordes Nazideutschlands zu emanzipieren, dass sie einen Weg zum Frieden in der Region finden! Und wer ihnen unterstellt, sie hätten eine kollektive posttraumatische Belastungsstörung, dem sage ich: Ja, und wenn?

Wer - wenn nicht sie hätten einen Grund dafür? Sie haben eine anerkannte Demokratie! Etwas, das sich sicher weiter entwickeln lässt, aber weiter entwickelt ist als in allen Nachbarstaaten.

Was ist los mit der arabischen Welt, dem Islam?
Ich wünsche mir, dass die arabischen Staaten ihr Trauma überwinden, das entstand, als Europäer sie entwürdigten, indem wir begannen in kolonialem Größenwahn ausgependelte regionale Gleichgewichte zu manipulieren, Grenzen willkürlich und rücksichtslos gezogen hinterließen, überall - auch in Palästina. Wir, die "neue und alte Welt" sind bis heute die Öl-Junkies, die jeden wählen, der günstiges Tanken glaubwürdig verspricht. Mehr oder weniger verdeckt wurde und wird interveniert, auch militärisch, wo dem Westen der Weg zum Öl gefährdet erscheint. Ich wünsche mir eine stolze, aber aufgeklärte arabische Welt, so etwas gab es mal im Mittelalter, damals waren wir die Barbaren.

Habe ich als Deutscher ein Recht dazu, all dies so frei zu denken, zu sagen?
Ich habe mir nie was darauf eingebildet, unter welchen Koordinaten ich das Licht dieser Welt erblickte, das wäre auch armseelig. Aber wenn es so etwas gibt wie eine historische Verpflichtung aus der Vergangenheit, dann diese: Selbst und frei denken und das Wort ergreifen!
Denn Autoritätsgläubigkeit, das Übertragen jeder Verantwortung auf vermeintlich Kompetentere, das nicht Hinterfragen des Untertans, das sehe ich noch immer überall, auch wenn "Geschlossenheit" für "Alternativloses" eingefordert wird. Doch das war es, was den Nationalsozialisten den roten Teppich ausrollte. Der Schoss ist fruchtbar noch...

Ich wünsche mir eine Welt, in der eine UNO wirklich jeden Staat wirksam maßregeln kann, der sich nicht an Standards hält, auf die man sich verständigt hat. Eine UNO, die erst auf dieser Grundlage den Respekt und die Macht hat, sowohl Israel, als auch Palästina zu schützen, die aber auch das Auftreten westlicher Mächte überwacht. Auch deshalb sollten wir alles daran setzen, vom Öl unabhängiger zu werden. Ja, ich weiß, das kann Wohlstand kosten, aber es öffnet so viele Perspektiven.9

Doch, ich habe Angst und sie ist größer als die Angst, hier Hohn und Spott zu ernten für vermeintlich naive Träume. Ich habe Angst, dass wir auf etwas zusteuern, dessen Ausmaß wir uns nicht vorstellen können. Und ich bin sicher, Israelis und Juden, Iraner, Syrier, Palästinenser, Araber, Christen, Muslime etc. haben auch Angst und Verantwortung. Auch sie sind sicher noch fähig, die Angst des Anderen zu spüren und ihre Verantwortung.

Doch das ist, was gefühlt werden muss, was dann folgt - ist Hoffnung.


Buchtipp dazu:

Der Tod ist mein Beruf - Robert Merle ISBN 2-0703-6789-4
Der Untertan - Heinrich Mann ISBN 978-3-596-13640-7

und viel Kant!

Sonntag, 26. Februar 2012

Der Kampf um den verfassungsrechtlichen Status des Netzes

Gilt der besondere Schutz der Wohnung auch für den mehr oder weniger voll verglasten "Wintergarten" in sozialen Medien, im Netz insgesamt?

Gefühlt ja, für die privaten Nutzer! Sie sind dort in zunehmenden Maße wie selbstverständlich präsent. Und sie übertragen normales "realweltliches" Verhalten im privaten Raum dabei auch ins Netz (ehemals Mitschnitte durch Audiokassettengeräte, Empfehlungen durch Vorspielen, CD-Verleih, Aufführung in privatem Rahmen). 
Die neue Infrastruktur setzt jedoch kaum Grenzen der Reichweite.
Aber umgekehrt dringen Shops, Werbung, Spam etc. Verkäufer und Schaufenster eben auch in den geschützten Raum des virtuellen Privatlebens ein. Spam flutet Postfächer.
Lange war das kein Problem, die Chancen bestanden und bestehen auf beiden Seiten. Muss man, um die Chancen zu nutzen, Abstriche von liebgewordenen, vermeintlich "wilden" Besitzständen machen? Beide Seiten werden virtuell zu neuen Kompromissen gezwungen. Die Nutzer empfanden es bislang als automatisch ausgeglichen.  

Nun jedoch versucht die Verwerter-Industrie auch mittels ACTA dieses, instinktiv als gerecht empfundene Gleichgewicht mit einem Rollback zu ihren Gunsten zu kippen. Derbes Geschütz wird aufgefahren, hanebüchene Argumente. Da werden die Zahlen privater CD-Kopien in entgangenen Umsatz umgerechnet, als hätte man für jedes untersagte Foto automatisch ersatzweise eine Ansichtskarte gekauft.

Anfang der 90er wurden in einer konzertierten Aktion die CD-Preise auf über 30,-DM fast verdoppelt und gehalten. Die Preise sind jedoch auf dem virtuellen Vertriebsweg im Bereich der legalen Downloads kalkulatorisch obszön hoch. Technischer  Fortschritt macht eine Musikproduktion auch eher günstiger als teurer. Diese Ignoranz der Marktmonopolisten schuf große Kreativität angesichts der neuen Möglichkeiten virtueller Welten und machte Filesharing erst richtig sexy. Eine echte Original-CD hätte auch zum Prestigeobjekt aufgebaut werden können. 
Aber so ist das bei Märkten, die sich durch GEMA, Kartellbildung großer Majorlabels und Verwerter vom Wettbewerb abkoppeln.

Man verweigert von Angst gesteuert die Evolution und provoziert die Revolution.

Wir stehen vor der historischen Aufgabe, für virtuellen Zonen verfassungsrechtliche Status zu definieren. Sie nehmen zunehmend bedeutenden Raum ein, im Leben einer zunehmenden Anzahl von Bürgern.
Der Staat sieht das Netz als öffentlichen Raum, wie Straßen und Plätze, der netzaffine Nutzer als Erweiterung seiner Wohnung und Privatsphäre. Kommerzielle Unternehmen sehen es als virtuelle Marktplätze und Schaufenster.

Der Kampf um die Deutungshoheit hat, für viele unbewusst, längs begonnen... ein notwendiger Prozess, eine breite gesellschaftliche Debatte, dem sich zunehmend demokratieverdrossene Politiker z. B. durch ACTA nicht entziehen können.